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Reise den Fluss entlang

Ein Besuch im Theater, eine Zugfahrt, ein Bootsausflug, der Aufenthalt in einer Stadt, eine verschwundene Liebe. „Reise mit dem Fluss“, eine Beschreibung, die sich selbst enthält, aber auch eine Aufforderung, den Wandel der Dinge, das Walten der Zeit, mit anderen Augen zu sehen – letztendlich zu erkennen, dass die Zeit nur die Macht über uns hat, welche wir ihr zugestehen. Die Harmonie des Augenblicks, scheinbar durch den Gang der Dinge zerstört, durch ein Hereinbrechen dessen, was vor seiner Zeit war, und dessen, was nach ihm sein wird, kann in dem Moment Unsterblichkeit erlangen, wenn die Angst vor dem Gespenst „Zeit“ überwunden ist.

Eine Geschichte ohne übertriebene Sensationen, ohne Hektik, aber nicht ohne Überraschungen. Eine Geschichte mit wenig Handelnden, deren Handeln aber Gewicht beansprucht. Eine Geschichte über Trauer, über Verlust, über Ohnmacht, aber nicht ohne die Kraft zu überwinden. – Das ist die Geschichte von Erich und Luisa, die eine Zeitlang zusammengehörten, aber auch nur einen Augenblick, aber auch immer schon und ohne Ende.

Leseprobe:
„[...] Ihre Reise ging an einem Fluss entlang. Die Nahtstelle zwischen Wasser und Land, dort, wo die Grenze zwischen dem Fließenden, Bewegten, und dem Festen, Unbewegte lag, bestand an vielen Stellen aus meterhohen Schilfwäldern, die wie eine grüne Wand in der Landschaft eingebettet lagen. Wie ein Wall erhoben sich diese Wächter, deren Aufgabe darin bestand, eine Trennung oder einen Übergang zwischen dem festen Boden auf dem Land mit seiner scheinbaren Beharrlichkeit, seiner scheinbaren Unbewegtheit und Unveränderlichkeit, und dem landabwärts fließenden Wasser mit seiner scheinbar unermüdlichen Bewegung, seiner scheinbaren Gestaltlosigkeit und Flüchtigkeit, zu bilden. Dort, wo die Schilfwälder fehlten, wo der Blick bis zu jenen Stellen frei war, an welchen das Wasser nicht mehr blau war, sondern nach und nach nahezu die Farbe des Uferbodens annahm, konnte das Schimmern der von den leichten Kräuselungen der Wasseroberfläche erzeugten Lichtfiguren unbehelligt bis an das Auge und bis in das Gemüt des auf dem Lande verwurzelten Betrachters vordringen. Dort konnte es seine Gedanken durcheinander geraten lassen und einen flirrenden Traum erzeugen, der jenseits eines Daseins von materiellem Charakter nur aus Lichtblitzen gebaut war. Dieses Blitzen und Schimmern, diese verwirrenden Lichtspiele, die ohne irgend eine Absicht oder erkennbaren Zweck auf die Oberfläche der Welt gemalt und mit unglaublicher Geschwindigkeit ständig neu gezeichnet wurden, ließen in ihrer Intensität selbst dann nicht nach, wenn die Quelle des Lichtes, das für ihr Bestehen notwendig war, jener am Himmel vorüberziehender Glutball, einer Wolke am Himmel Tribut zollen musste und sein Licht daher nicht direkt bis zu den umher springenden Formen der bewegten Wasseroberfläche durchdringen konnte. Dann war es das Nachschimmern der Gedanken, welches reibungslos die Aufgabe des direkten Sonnenlichtes übernahm. [...]

Die anfangs noch schwache Beschleunigung des Flugzeugs wich bald der ganzen Kraft der voll aufgedrehten Turbinen. Das Transportmittel mit den Menschen darin bildete auf diese Weise das Austragungsfeld eines Kampfes: die eine Partei die Trägheit der sich der Beschleunigung widersetzenden Masse, das Verharren-Wollen des Flugzeuges und der sich in ihm befindenden Dinge und Menschen, die andere die Flüchtigkeit der Gedanken, die ohne viel Mühe bereits das Ende der Reise vorwegzunehmen in der Lage waren. Das zuerst langsame sich Vorbeibewegen der durch die Fenster sichtbaren Gebäude wurde bald zu einem Davoneilen derselben, die Markierungen auf der Rollbahn zu einem Surren von weißen Schlieren. Der Horizont kippte nach vorne weg, und genau in diesem Moment ging für Erich und die anderen Reisenden der direkten Kontakt mit dem Erdboden verloren. Das starke Band zwischen ihnen und dem Planeten, das darin Bestand, dass zwischen beiden ein direkter und auf fester Materie beruhender Kontakt stattfand, und welches auf diese Weise die meiste Zeit den wichtigsten physischen Rahmen für ihre körperliche Existenz darstellte, war gerissen und verdrängt worden durch ein schwächeres Band, in dem nur noch die Luft als Aufenthaltsmedium eine Rolle spielte. Eigentlich würde sich dieser Vorgang, dieses gewaltsame Abtrennen, auf fürchterliche Weise rächen, würden die Wesen, die sich in dieser Weise von ihrem Ursprung entfernten, auf diesen zurückfallen. Den Menschen aber war es aber gelungen, die kaum vorhandene Materialität der Luft für ihre Zwecke zu verwenden und sie für ihre Fahrzeuge tragfähig zu machen.

Die vereinzelten Wolken am Himmel kamen näher, die Konturen auf dem Boden dagegen verschwanden immer mehr. Bald waren auch die Wolken zurückgelassen, über dem Flugzeug nur noch einige dünne Schlieren und der Rest des Universums. Erich war müde, und da der Flug noch etwa eine Stunde dauern würde, lehnte er sich zurück und ließ zuerst seine Gedanken sich vom Erdboden trennen und nach kurzer Zeit einen Wolken gleich leichten Schlaf über sich Herr werden.

  Schlafe, liebes Kind,
  träume von weiten Feldern,
  träume von hellem Licht,
  träume von großen Wäldern.

  Walte Vorsicht jedoch,
  wache nicht auf so bald,
  vielleicht ist's auf der Welt
  gerade zu kalt.

  Schlafe, liebes Wesen,
  lass die andern sich sorgen,
  um die Welt kümmern
  kannst du dich am Morgen.

  Male dir im Schlaf
  deine eigene schöne Welt,
  male eine solche,
  wie sie wirklich dir gefällt.

Als er aufwachte, befand sich sein Flugzeug bereits im Landeanflug. Eine kleine Stadt war von oben zu erkennen, bot sich dem durch die Luft Reisenden als frischer, neuer Ankerpunkt. In diesem Moment noch kaum mehr als ein Farbfleck in der weiten Landschaft, wird sie sich in wenigen Augenblicken in einen Ort verwandeln, in dem Menschen lebten, warteten, und träumten. Und auf genau solche Weise war kurze Zeit später die Bande zwischen einem kurzzeitig in den Himmel ausgerissenen Erdbewohner und seinem Heimatplaneten wieder hergestellt. Luisa, die die Ankündigung seines Besuches mit unendlicher Fröhlichkeit aufgenommen hatte, wollte ihn natürlich im Flughafen schon in Empfang nehmen, und tatsächlich, nachdem er sein Gepäck abgeholt hatte, erwartete sie ihn in der Schalterhalle. Sie hatte ein Geschenk für ihn, eine weiße Rose, die sie ihm gab, bevor sie etwas sagte und bevor er etwas sagen konnte. [...]“